Erstgespräch

Kein Amerikaner duzt Sie: How great thou art…

Wetten, dass kein Amerikaner Sie bislang duzte! Lesen Sie hier warum!

„How great thou art…“ oder „Warum die Amerikaner nicht duzen“

Chaucer kannte es, Shakespeare auch und sicherlich hat auch jeder amerikanische Vorgesetzte schon davon gehört – aber nutzen will er es nicht. Gemeint ist die Du-Form in der Anrede. Wie bitte? Gerade die Amerikaner duzen doch jeden und sein Dackel, oder?

Falsch! Denn eigentlich werden Herrchen und Hund mit Sie angesprochen. Streng genommen siezt der moderne Amerikaner alles was kreucht und fleucht, denn grammatikalisch gesehen ist in der englischen Sprache nur noch die Sie-Form übriggeblieben.

Als Julia in der zweiten Szene im zweiten Akt von Shakespeares Meisterwerk ausruft „O Romeo, Romeo, wherefore art thou, Romeo?“ duzt sie ihre Jugendliebe. (dt. Übersetzung: „O Romeo, Romeo, wo bist du Romeo?“(1) Doch nur wenige hundert Jahre nach Shakespeare hatte sich eben diese familiäre Form von „thou“ und „thy“ zugunsten der „you“-Form gewandelt, die sich aus dem „ye“ entwickelte, also der 2. Person plural – dem Ihr(2)

Wie das deutsche Du war das „thou“ in der 2. Person Singular eine eigenständige pronominale Anredeform, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts dem „you“ wich. Diese Pluralität lässt sich noch deutlich am Verb „to be“ erkennen. (siehe Infokasten rechts–>)

Das „thou“ wurde später sogar als herabwürdigend gesehen und das „bessere“ „you“ mit seiner einfacheren Konjugation fand immer mehr Anwendung auch unter Sprechern der gleichen Schicht bzw. auf gleichem Rang.

Flächendeckend hat sich die plurale Ihr-Form durchgesetzt. Nur noch in (älteren) biblischen Texten finden wir Referenz an die einstige Du-Form. Zum Beispiel im „Vater unser“ wenn es heißt „…thy kingdom come, thy will be done…“. Doch während die King James Bible noch voller „thous“ und „thys“ ist, greifen modernere Bibelwerke das „you“ bereitwillig auf.

In einigen Dialekten im Norden von England oder Irland fällt gelegentlich noch ein „thou“ oder gar ein „ye“, wenn es um die Pluralform geht. Doch weitestgehend ist das einst hoffierende und höflichere „you“ längst etabliert.

Interessant ist auch, dass in manchen Regionen z.B. im amerikanischen Süden und Mittleren Westen ein „Y’all“ (von „Ye all“ also Ihr alle ) erklingt, wenn mehrere Personen gleichzeitig angesprochen werden. Nur so differenziert „you“ gemäß der Anzahl der Angesprochenen.

Englischsprachige Menschen gelten allgemein als besonders höflich. Vermutlich spielt die sprachliche Distanz des Siezens dabei eine Rolle. Der respektvolle Abstand, den das „you“ bietet, wirkt sich auch auf den sprachlichen und menschlichen Umgang miteinander aus.

Natürlich liegt das Argument auf der Hand, dass „you“ wohl eine Du-Sie-Mischform ist, vor allem wenn die Du-Form faktisch nicht mehr existiert. Dennoch, rein grammatikalisch gesehen bleibt es dabei: In amerikanischen Betrieben wird gesiezt, auch wenn die gleichzeitige weit verbreitete Verwendung der Vornamen den irreführenden Eindruck entstehen lässt, dass hier flächendeckend geduzt wird.

Schließlich wäre es schon komisch, einen Mitarbeiter mit „How great thou art, Mr. Jones!“ zu loben. Da hört sich doch „You did a great job, Jim!” wirklich besser an.


  1. http://www.poemswithoutfrontiers.org/Romeo_and_Juliet_2_2.html, Heruntergeladen am 10.04.2017
  2. https://de.wikipedia.org/wiki/Proominale_Anredeform#Englischer_Sprachraum, Heruntergeladen am 10.04.2017

 

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Erstveröffentlichung und Copyright (c) 2017, Astrid Weidner.
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Ein Cessna-Sportflugzeug am Himmel von unten fotografiert

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