Erstgespräch

Meine Blindheit sehe ich als Chance

Ich bin gerne in Rosengärten – egal ob auf der Insel Mainau am Bodensee oder in den Butchart Gardens auf Vancouver Island in Kanada – ich liebe sie. Die feinen Düfte der edlen Blumen begeistern mich.
Und dennoch: Ich habe noch nie eine Rose gesehen und ich werde auch nie eine sehen.

Oftmals werde ich bedauert sobald Menschen erfahren, dass ich blind bin. Und sie sind gar zu erstaunt, wenn ich auf die „Ich-hätte-einen-Wunsch-frei-Frage“ nicht antworte, dass ich sehen möchte. Blindheit ist für mich weder niederschmetterndes Schicksal noch lästige Behinderung. Ich sehe sie als Chance.

Wir Blinde gehen viel mehr in die Tiefe als sehende Menschen das tun oder gar tun können. Wollen wir einen Gegenstand „erfassen“, so müssen wir genau das auch machen. Anfassen, fühlen, Maß nehmen, tasten, riechen, hören.
Ein Sehender schaut eine Blume an und sagt „Jup, das ist eine Rose.“ Er registriert eventuell noch die Farbe oder beugt sich vielleicht tatsächlich runter, um sie zu riechen.

Ich aber weiß, wie sie sich anfühlt. Ich kenne die Form ihrer Blüten, Blätter und Stacheln. Ich „er-kenne“ sie am Duft und an ihrer Wirkung auf andere Menschen. Ich höre im Rosengarten das feine Säuseln des Windes durch die Beete oder das Summen der Bienen in den Blüten.

Überhaupt bin ich viel mehr auf das Gehör fixiert. Man schult ja die Sinne, die man am meisten benutzt. Somit ist mein Sehsinn nicht mal ein schmaler Trampelpfad, mein Hörsinn aber eine breit ausgebaute mehrspurige Autobahn. Wenn ich mir meine E-Mails von meinem Screenreader (also Bildschirm-Lesegerät) vorlesen lasse, so passiert dies mit fast fünffachem Tempo der normalen Sprechgeschwindigkeit. Für Außenstehende klingt das ein bisschen nach piepsiger Mickey Maus Stimme. Für mich ist das eine grandiose Zeitersparnis und bringt viele Vorteile mit sich – zum Beispiel, dass ich im Dunkeln „lesen“ kann.

Auch ansonsten birgt die Blindheit viel Praktisches für mich. Benutze ich eine Brailleschriftvorlage bei einem Vortrag, so lasse ich meine Finger über den Text gleiten und kann permanent ins Publikum schauen. Ein Redner mit permanenten „Augenkontakt“ wird von den Zuhörern als sehr präsent empfunden. Zudem hat der Zuhörer – als netter Nebeneffekt – den Eindruck, dass ich komplett frei spreche.

Und gerade beim Hören achtet ein Blinder viel mehr auf die Nuancen in der Stimme und erkennt vieles, was dem Sehenden erst nach langem intensivem Zuhören und gutem Beobachten „sichtbar“ wird.

Machen Sie den Selbsttest – stellen Sie Ihre Siri, Cortana oder Alexa doch einmal auf maximale Geschwindigkeit und hören sie gut zu bei einem Text Ihrer Wahl. Und nun schließen Sie die Augen und hören einen anderen Text im gleichen Tempo. Bei dem zweiten haben Sie vermutlich viel mehr verstanden. Warum wohl? Sie waren nicht abgelenkt. Die 80 % bis 90 % der Information, die Sie sonst über Ihre Augen aufnehmen haben gefehlt und konnten Sie nicht ablenken. Sie waren fokussiert auf eine einzige Aufgabe.

Genau hier spanne ich den Bogen zwischen Blindheit und Achtsamkeit. Als Nicht-Sehender ist man geradezu für Achtsamkeit prädestiniert. Es gibt zwar Ablenkungen, aber über die Jahre habe ich gelernt, wie ich diese abstelle. Höchst konzentriert auf jedes noch so kleine Tönchen und jede noch so feine Nuance, kann ich als Blinde vieles mehr erfassen. Solche Fähigkeiten sichern mir zum Beispiel auch das Überleben im Straßenverkehr, denn ich höre die heranfahrenden Fahrzeuge, die ich nicht sehe.

Gutes hinhören hilft nicht nur bei Coaching-Gesprächen, sondern auch wenn es darum geht, das Eis zu brechen. Oftmals merken Menschen, dass sie uns Blinden nichts vormachen können. Das befreit und baut eine ganz andere Dimension der Kommunikation auf. Somit kann ich beim Coaching direkter zum Punkt kommen oder höre das heraus, was mein Gesprächspartner nicht in Worte fassen kann. Wäre ich sehend würde ich vielleicht viel mehr auf oberflächliche Gestik und Mimik oder Körperhaltung achten und diese feinen Schwingungen und Nuancen „überhören“. Doch als Blinde bin ich auf sie fixiert und ebenso von ihnen fasziniert, denn das Hören bringt mir den Menschen viel näher als das Sehen.

Ja, meine Blindheit ist eine Chance – ich sehe eben alles einfach anders.

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Erstveröffentlichung und Copyright (c) 2017, Astrid Weidner.
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Rosa Blume vor Blätterhintergrund

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