Erstgespräch

Nähe trotz Distanz? Sei so gut und siez mich doch!

Es gibt Unternehmen, da duzen sich alle – vom Geschäftsführer bis zum Auszubildenden oder treffender gesagt: vom Azubi bis zum Chef. Die einen finden das schick, denn es bringe eine gewisse Gleichstellung quer durch die Hierarchien.

Gerne argumentieren diese knallharten Duzer, dass das flächendeckende Du die Ebenen und Stände innerhalb einer Gruppe verblassen lässt, sie sogar ganz aufhebt. Die Mächtigen werden mit dem Du vom hohen Ross gestürzt und werden wieder bodenständig.

Andere finden es befremdend, denn das Du schafft eine manchmal unnatürliche Nähe. Ihr Argument ist ein schlichtes: Das Sie gleicht ebenfalls alles aus, aber auf höherem Niveau. Während das familiäre Du nach unten nivelliert, hebt das würdevolle Sie die Latte des Respekts förmlich an.

Sogar der Spruch „ ‘Sie Idiot!‘ ist doch besser als ‘Du Depp!‘ “ birgt eine weitere Wahrheit in sich: Wer Kritik üben möchte, tut sich bei einem geduzten Menschen vermutlich schwerer, denn wer stellt schon gerne einen Kumpel in den Senkel?

Wer siezt lässt hingegen Distanz zu und öffnet den Weg, Nähe zu gewähren ohne sich den Rückzugsweg zu verbauen. Lässt man einen gesiezten Menschen Nähe spüren, so wird ihm eine deutliche Wertschätzung zuteil.

Das Du lädt zum Verletzen von Grenzen ein, denn beim Duzen verpufft diese Distanz augenblicklich. Die Nähe ist schon vergeben. Dem geduzten Menschen diese Nähe zu entziehen, erfordert ein Zurückstoßen. Das kann wiederum verletzen oder regelrecht „Entzugs-Erscheinungen“ auslösen.
In vielen Kulturen ist das Siezen die Anrede der Wahl. Immer wieder stellen Touristen und Geschäftsleute fest, dass die englischsprechenden Menschen sehr höflich erscheinen.

Wer nun weiß, dass in der englischen Sprache flächendeckend gesiezt wird (die Du-Form verschwand weitestgehend vor circa drei Jahrhunderten aus dem Sprachgebrauch) kann mutmaßen, dass diese sprachliche Distanz einen zuvorkommenden und wohlwollenden Umgang miteinander fördert. Der Butler siezt also den Lord genauso wie der Lord den Butler siezt.

Und das quer über alle Stände und Hierarchien hinweg.


Erstveröffentlichung und Copyright (c) 2017, Astrid Weidner.
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