Bahnfahren in Corona-Zeiten ist schon für sehende Menschen spannend. Doch für uns sehbehinderte und blinde Menschen bringen Fahrten von Abstand nach Maske viele Herausforderungen mit sich.
Ich glaube, ich habe meine Frustration mit dem Corona-Virus endlich erkannt: Der kleine Kerl rüttelt an der Basis meiner Alltagskompetenzen. Durch seine subtilen, jedoch weit verbreiteten Auswirkungen hat er meine Welt grundlegend durcheinander gebracht. Er führt mir vor Augen, wie Dinge, die ich bislang selbständig bewältigen konnte, auf einmal nicht mehr erreichbar sind.
Nehmen wir das Beispiel „Mobilität“. Ich bin gerne mit dem Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV) unterwegs. Stieg ich vor Corona vorne in einen Bus ein, fragte ich immer den Busfahrer, ob ich im Bus der richtigen Linie und in der korrekten Fahrtrichtung bin. Ausnahmslos bekam ich freundliche und qualifizierte Antworten und konnte entspannt fahren. Fahrgäste konnte ich zwar auch fragen, doch manchmal waren deren Antworten nicht gerade hilfreich.
Seit Corona heißt es in der Regel „hinten einsteigen“ und vom Busfahrer bin ich zusätzlich durch eine Scheibe getrennt. Das hat natürlich seine Berechtigung, schmälert jedoch die Freude, die ich an meinem ÖPNV-Erlebnis empfinde, erheblich.
Zudem ist es schwieriger einen Platz zu finden mit dem sozial korrektem Abstand.
Ich merke auch, dass die Menschen, die sonst gerne Hilfe angeboten haben, nun noch verunsicherter sind als früher. Dürfen Sie eine Blinde ansprechen und ihr einen leeren Platz andeuten? Oder mich sogar dorthin geleiten?
Auch beim Umsteigen auf Bahnhöfen ist es nun anders. Die guten Samariter, die bereitwillig den Arm gereicht haben, um mich auf Gleis XY zu begleiten, sind nun unsicher, ob sie das überhaupt dürfen oder sollen. Vielleicht befürchten sie auch, dass ich das gar nicht will. Doch an meiner Angewiesenheit auf andere in bestimmten Situationen hat Corona nichts geändert. Ich bin nach wie vor auf sehende Menschen angewiesen, wenn ich alleine unterwegs bin. Schließlich kenne ich bislang nur bestimmte Bahnhöfe persönlich.
Doch ohne das Abstandsgebot zu verletzen, können mir die wenigsten handfeste Hilfe anbieten. Die 1,5-Meter-Abstand-Regel ist ein echtes Dilemma, mit Unsicherheit auf allen Seiten. Es wird spannend zu beobachten, wie wir es in Zukunft gut lösen können
Zum Glück gibt es den Mobilitätsservice der Deutschen Bahn. Hier habe ich schon seit vielen Jahren gute Erfahrungen gemacht. Ich kann den Dienst telefonisch oder im Internet gut erreichen und vorbuchen. Verlässlich wartet dann schon jemand am Gleis, um mit mir den Anschlusszug zu erreichen. Dieser gute Service ist fast an allen Bahnhöfen möglich. Allerdings sind spontane Fahrten damit nicht so leicht möglich, denn diesen Service kann ich nur bei Reisen in Anspruch nehmen, die ich detailliert plane und organisiere. Welchen Zug ich nehmen soll, organisiere ich nun mindestens einen Tag davor. Dieser Frechdachs von Virus nimmt mir noch den letzten spontanen Reisespaß im Fernverkehr!
Auffällig ist, dass es in Bahn und Bus wesentlich ruhiger geworden ist. Irgendwo zwischen Maskenpflicht und Abstandhalten versickert auch die Kommunikation zwischen den Fahrgästen. Angenehmerweise wird auch nicht mehr so oft mit dem Handy lautstark telefoniert. Vielleicht, weil es sich durch die Maske einfach nicht mehr so cool wie früher anhört, wer weiß.
Ich merke es auch bei mir – das nette Schwätzchen zum Sitznachbar ist nicht mehr möglich. Auch ich fühle mich zu distanziert durch die Maske, die auch meinen Geruchssinn beeinträchtigt und meine Hörsinn fordert, um nach Reiseziel oder Wetterprognosen zu fragen.
Nun ja, die Masken haben auch einen Vorteil: Adieu Zigaretten-Atem, alter Schweißgeruch, Muffel-Klamotten-Mief sowie Alkohol- und Knoblauchausdünstungen. Diese Nasenrümpfer dringen nicht mehr so leicht wie früher zu mir durch. Die erfreulichen Parfums allerdings auch nicht.
Doch ich hoffe, dass diese Beeinträchtigungen alle nur vorübergehend sind, denn ich bin gerne unterwegs und lerne Menschen kennen. Und bislang habe ich immer große und auch herzliche Hilfsbereitschaft erfahren. Das wird der kleine Virus zum Glück langfristig nicht ändern.
Und noch ein positiver Nebeneffekt: Seitdem ich nicht mehr reise sind meine Stresssymptome massiv rückläufig. Ich bin selber erstaunt, wie anstrengend das Unterwegssein für mich bislang war. Auch andere Blinde haben mir bestätigt, dass sie – wie ich – vollkommen unterschätzten, wie sehr sie beim Reisen gestresst sind.
Neben diesem Corona-Chroniken-Beitrag zum Thema Mobilität, erfahren Sie hier mehr über meine Corona-Einkaufserlebnisse und hier über meine Corona-bedingten Erkundungen der virtuellen Online-Konferenzen. Zum Thema Hilfe bei Behinderung verfasste ich bereits einen Blogartikel. Diesen finden Sie hier.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen!
Den nächsten Blogeintrag zu der Serie „Die Corona-Chroniken“ finden Sie hier:
Erstveröffentlichung und Copyright (c) 2020, Astrid Weidner.
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