Dass ein kleiner Virus unsere große Welt lahmlegt ist ein besonderes Phänomen. Doch für uns blinde und sehbehinderte Menschen bringt das Corona-Virus noch zusätzliche Herausforderungen.
Während die ganze Coaching-Welt spontan das digitale Arbeiten und die virtuellen Coaching-Sitzungen entdeckt, stellen mich die Online-Konferenzen und virtuellen Seminare vor ganz andere Anforderungen.
Jeder Sehende nutzt den Bildschirm mit seiner Flächendarstellung und der Möglichkeit, viele Dinge gleichzeitig auf dieser Fläche zu zeigen. Dazu steht ihm auch der Lautsprecher zur Verfügung, über den er die auditiven Informationen aufnimmt. Ich habe nur den Lautsprecher als Kanal. Gut, ab und zu nutze ich die Braillezeile – also eine haptische Ausgabe von Information, die ich ertasten kann – wenn ich zum Beispiel auf Nummer Sicher gehe und die Ziffern des Zugangscodes für die Video-Konferenz genau erfassen will. Doch für Teilnahme am Gespräch bin ich auf den Lautsprecher angewiesen. Und das gleich mehrfach, denn hier bündeln sich alle Informationen des gesamten Meetings.
So höre ich die Gespräche der Meeting-Teilnehmer und gleichzeitig auch die Sprachausgabe meines Screenreaders, also jenes treue Programm das mir alles vorliest, was ich nicht optisch erfassen kann: Sei es die im Meeting geteilte PDF-Datei, die Hinweise, dass Lieschen Müller das Meeting verlassen hat und die Chatnachrichten und natürlich die Navigationshinweise, damit ich die Funktionen der Konferenz-Software auch steuern und nutzen kann.
Da habe ich schon gut zu tun alles korrekt zu separieren und sortieren.
Und dennoch bin ich erstaunt, wie gut ich inzwischen mit Skype, Zoom und Co. zurechtkomme und dadurch ein paar Schritte weiter in den digitalen Dschungel eindringen kann. Vieles geht noch nicht: Mein Screenreader erkennt die Whiteboard-Funktionen nicht und eingeblendete Bilder bringen mir keine neuen Informationen. Auch das Erkennen des virtuellen Handhebens oder digitalen Klatschens der anderen Teilnehmer sowie die gemeinsame Arbeit an geteilten Dateien sind mir nur bedingt möglich.
Und wenn dann noch mein Screenreader seine eigene Lautstärke von der Systemlautstärke abhängig macht, ist das Chaos perfekt. Ich kann ihn zwar mit einem einfachen Tastendruck ruhigstellen, doch dann verliere ich eventuell wichtige Informationen.
Er hält auch nicht die Klappe, wenn ich etwas im Meeting beitrage, doch ich bin dann für einen kurzen Moment die einzige, die ihn hört. So viel Höflichkeit hat er dann doch. So hören zumindest die anderen Teilnehmer nicht, wenn bei mir unter dem Sprechen eine E-Mail reinkommt oder mein Terminkalender mich an etwas erinnert.
So schalte ich inzwischen sämtliche Apps aus oder stumm vor jedem Online Meeting. Das Geschwafel des Screenreaders von der Konferenztoolnutzung aller Teilnehmer langt vollkommen.
Auch ist die virtuelle Konferenzwelt für mich verzerrt. Auch sehende Teilnehmer beeinflusst dies. Doch die Verzerrung nehmen sie nicht bewusst war, sie berichten dennoch, dass es für sie anstrengend ist.
Ich kann mich nicht „räumlich“ orientieren, „sehe“ die Gesprächspartner und deren Setting nicht und höre alle „aus der gleichen Ecke“. Das auditive Panorama im Raum fehlt. Akustisch springen die Teilnehmer teilweise aus anderen Mitredenden heraus. Das strengt an – wie ich meine auch bei anderen Teilnehmern – und erfordert von mir höchste Konzentration.
Das im Online-Meeting Gehörte ist wie eine schlechte Mono-Tonspur. Die Mikrofone der anderen Teilnehmer sind unterschiedlich eingestellt. Das ist akustisch, wie wenn sie hintereinander in einer Schlange stehen.
Radiotechniker und -moderatoren kennen das Phänomen und sorgen dafür, dass der Sprecher sich von den Hintergrundgeräuschen abhebt und die wichtigen Informationen nacheinander zu hören sind und nicht parallel.
Während bei einer Telefonkonferenz viele Headsets benutzen oder den Hörer direkt am Mund haben, ist bei den Online-Meetings oft nur das Raummikro im Einsatz. Die unterschiedliche Mikrofon- und Übertragungsqualität, verbunden mit verschiedenartigen Raumklängen der jeweiligen Umgebung verschleiern und verzerren den Klang der sprechenden Person. Oft ist ein Teilnehmer kaum noch zu hören. Zudem bildet sich kein wirklicher gemeinsamer akustischer Raum.
Doch summa summarum bin ich zufrieden mit den Nutzungsmöglichkeiten der Online-Meeting-Tools, auch wenn ich hier und da benachteiligt bin. Immerhin kämpfe ich nicht mit den vielen Eindrücken am Bildschirm wie manche Teilnehmer, die sich zusätzlich auch noch mit dem eigenen Raumerlebnis im Homeoffice („Papa, wann gibt’s Pizza? Mama, wo ist mein Malbuch?“) und dem auditiven Stimmenwirrwarr auseinandersetzen und dabei auch viel Konzentration, Kraft und Geduld einbringen. Ich finde die Erkundung der Phänomene im virtuellen Raum spannend und sie macht mir auch Spaß. Auch merke ich, dass die Teilnehmer sich beobachtet fühlen und innerlich und äußerlich Haltung annehmen.
Und jetzt höre ich auf… meine nächste Zoom-Konferenz fängt gleich an. Machen Sie es gut und bleiben Sie gesund.
Den nächsten Blogeintrag zu der Serie „Die Corona-Chroniken“ finden Sie hier:
Erstveröffentlichung und Copyright (c) 2020, Astrid Weidner.
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