Erstgespräch

Die Corona-Chroniken 5/5: Bleiben Sie gesund!

Im ersten Teil meiner Corona-Chroniken habe ich, wie so viele zurzeit, den Text mit der Aufforderung „Bleiben Sie gesund“ beendet. Meine Absicht war gut und doch beobachten wir hier möglicherweise die Entstehung einer neuen Grußformel, die als Floskel nach und nach ihren wahren Sinngehalt verliert.

Die Extremform hiervon beschreibt das Phänomen der semantischen Sättigung. Dabei führt die häufige Wiederholung eines Wortes zu einem vorrübergehenden Bedeutungsverlust.

Probieren Sie es gern und wiederholen Sie so oft wie möglich ein Wort Ihrer Wahl. Sie werden merken, dass Ihre Aufmerksamkeit als Sprecher anfänglich zunimmt und Sie das Wort in seiner vollen Wucht spüren. Anschließend nimmt die Aufmerksamkeit jedoch ab und Sie werden den jeweiligen Begriff nur noch als bedeutungslose Aneinanderreihung von Tönen empfinden.

In meinen angebotenen Übungen habe ich deswegen immer die Aufforderung „Sagen Sie den Satz einmal, und dann sagen Sie ihn noch einmal“. Hierbei ist wichtig, dass die Teilnehmer weggehen vom intellektuellen Übersetzen eines Satzes mit sprachlichen Bedienungsfehlern und stattdessen hin zum ganzheitlichen Spüren der Kraft der Sprache. Ich fokussiere mich also darauf, die Menschen den Satz, das Wort, die Aussage spüren zu lassen.

Der Journalist Dr. Alexander Kissler führt in „Der achte Tag“ – Episode 23 des Podcasts „Steingarts Morning Briefing“ eine These des Philosophen Immanuel Kant auf. Diese besagt, dass „diese anfänglich leeren Zeichen des Wohlwollens und der Achtung“ – das heißt Floskeln – mit der Zeit „zu wirklichen Gesinnungen dieser Art hinleiten“. Dies lässt sich im Falle von „Bleiben Sie gesund“ nicht beobachten, denn wir verwendeten den Begriff von Anfang an bedeutungsschwer. Durch unsere Überstrapazierung und die Verwendung in jeglichem alltäglichen Kontext lief es jedoch ins Floskelhafte. Die eigentliche Bedeutung als ehrlicher Wunsch verlor somit an Bedeutung.

Weiterhin lässt sich der Ausdruck „Bleiben Sie gesund“ falsch deuten. Denn letztlich hängt es von vielen Faktoren ab, ob ich wirklich gesund bleibe. Nicht alle dieser Faktoren unterliegen meiner Kontrolle. Wir können durch Tragen eines Mund-Nase-Schutzes und Abstandhalten noch so vorsichtig sein und trotzdem mit diesem Virus infiziert werden. Unsere Gesundheit ist und bleibt letztendlich ein Geschenk. Selbst wenn wir immer wieder so tun, als ob wir durch Selbstoptimierung alles im Griff hätten.

Auch die Aufforderung „Fahr vorsichtig“ ist unter vorgenanntem Gesichtspunkt zu verstehen. Sie können noch so defensiv und vorausschauend fahren und doch kann Ihnen durch Unaufmerksamkeit oder Übermut eines anderen Schlimmes widerfahren.

Vor allem bei Beileidsbekundungen scheinen leere Phrasen wie „Mein Beileid“ besonders schmerzhaft auf Menschen zu wirken. Gesellschaftlich ist zwar geboten, Redewendungen wie diese weiter im entsprechenden Moment zu verwenden. Doch letztlich liegt es an uns allen, unsere Worte genau zu wägen und das, was wir sagen, tatsächlich so zu meinen.

In diesem Sinne: Geben Sie auf sich acht!

Erstveröffentlichung und Copyright (c) 2020, Astrid Weidner.
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